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ICF Version 2005

Anhang 4: Fallbeispiele

Die folgenden Beispiele beschreiben Anwendungen der Konzepte der ICF auf verschiedene Fälle. Sie sollen den Anwendern helfen, Intention und Anwendung der grundlegenden Konzepte und Konstrukte der Klassifikation zu verstehen. Weitere Einzelheiten sind in den Ausbildungsmaterialien und -kursen der WHO zu finden.

Eine Schädigung, die weder zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit noch der Leistung führt

Ein Kind wird mit einem fehlenden Fingernagel geboren. Diese Fehlbildung ist eine Schädigung der Struktur, die weder die Funktion der Hand des Kindes noch die Tätigkeiten, die das Kind mit der Hand ausübt, beeinträchtigt. Daher liegt hier keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit vor. Es braucht auch kein Leistungsproblem zu bestehen - wie z.B. mit anderen Kindern spielen, ohne gehänselt oder aus dem Spiel ausgeschlossen zu werden – infolge dieser Fehlbildung. Deshalb hat das Kind weder Einschränkungen der Leistungsfähigkeit noch Leistungsprobleme.

Eine Schädigung, die zu keiner Einschränkung der Leistungsfähigkeit, jedoch zu Leistungsproblemen führt

Ein Kind mit Diabetes mellitus hat eine Schädigung der Funktion: Der Pankreas erfüllt nicht angemessen seine Aufgabe, Insulin zu produzieren. Der Diabetes kann mit Medikamenten, d.h. mit Insulin, kontrolliert werden. Wenn diese Körperfunktion (Insulinspiegel) kontrolliert wird, treten keine Einschränkungen der Leistungsfähigkeit auf, die mit der Schädigung in Verbindung stehen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das Kind mit Diabetes Leistungsprobleme beim geselligen Zusammensein mit Freunden oder Gleichaltrigen erlebt, wenn es ums Essen geht, weil das Kind die Zuckeraufnahme einschränken muss. Das Fehlen geeigneter Speisen würde eine Barriere bilden. Aus diesem Grund würde das Kind - trotz vollständiger Leistungsfähigkeit - in seinen Einbezogensein in das gesellige Zusammensein in der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt eingeschränkt sein, solange nicht Schritte zur Gewährleistung unternommen werden, geeignete Speisen zur Verfügung zu stellen.

Ein anderes Beispiel ist das einer Person mit Vitiligo (Scheckhaut) im Gesicht, die keine anderen körperlichen Beschwerden aufweist. Dieses kosmetische Problem bewirkt keine Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Die Person könnte jedoch in einer Umgebung leben, in der die Vitiligo mit Lepra verwechselt und somit als ansteckend betrachtet wird. In der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt der Person stellt daher die negative Einstellung eine Barriere der Umwelt dar, die zu bedeutenden Leistungsproblemen bei interpersonellen Interaktionen führen.

Eine Schädigung, die zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und - je nach den Umständen - entweder zu Leistungsproblemen oder zu keinen Leistungsproblemen führt

Deutlich unterdurchschnittliche Intelligenz ist eine mentale Schädigung, die zu gewissen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit der betroffenen Person auf verschiedenen Gebieten führen kann. Umweltfaktoren können jedoch das Ausmaß der Leistung der Person in verschiedenen Lebensbereichen beeinflussen. So mag eventuell ein Kind mit dieser mentalen Schädigung nur geringe Nachteile in einer Umwelt erfahren, in der die Erwartungen in der allgemeinen Bevölkerung nicht hoch sind und in der dem Kind eine Reihe von einfachen, sich wiederholenden aber notwendigen Aufgaben zur Erfüllung übertragen werden. In dieser Umwelt wird das Kind die verschiedenen Lebenssituationen gut meistern.

Ein anderes Kind mit einer vergleichbaren Schädigung, das in einer durch Konkurrenz und hohen akademischen Erwartungen geprägten Umwelt aufwächst, könnte sich in den verschiedenen Lebensbereichen mehr Leistungsproblemen gegenübersehen, verglichen mit dem ersten Kind.

Dieses Fallbeispiel stellt zwei Sachverhalte heraus. Erstens: Die Bevölkerungsnorm oder der Bevölkerungsstandard, mit dem die Funktionsfähigkeit einer Person verglichen wird, muss der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt entsprechen. Zweitens: Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Umweltfaktoren kann entweder einen auf die Funktionsfähigkeit günstig oder ungünstig wirkenden Einfluss ausüben.

Eine frühere Schädigung, die zu keinen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führt, aber dennoch Leistungsprobleme verursacht

Eine Person, die sich von einer akuten psychotischen Episode erholt hat, aber das Stigma eines "psychiatrischen Patienten" trägt, kann wegen der negativen Einstellungen der Menschen in ihrer Umwelt Leistungsprobleme in den Domänen "Beschäftigung" und "interpersonelle Interaktionen" haben. Daher ist die Partizipation [Teilhabe] der Person an der Beschäftigung und am sozialen Leben eingeschränkt.

Unterschiedliche Schädigungen und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die zu ähnlichen Leistungsproblemen führen

Eine Person wird vielleicht wegen des Ausmaßes ihrer Schädigung (Tetraplegie [vollständige Lähmung aller vier Extremitäten, d. Übers.]) auf einen Arbeitsplatz nicht eingestellt, weil sie einige Arbeitsanforderungen nicht durchführen kann (z.B. die Tastatur eines Computers bedienen). Der Arbeitsplatz hat nicht die notwendigen Anpassungen, um der Person die Erfüllung diese Anforderungen zu ermöglichen (z.B. Spracherkennungssoftware, welche die Tastatur ersetzt).

Eine andere Person mit einer weniger schweren Tetraplegie, welche die notwendigen Arbeitsaufgaben erfüllen kann, wird jedoch vielleicht nicht eingestellt, weil die Quote für die Einstellung von Personen mit Behinderung bereits erfüllt ist.

Eine dritte Person, die fähig ist, die geforderten Arbeitsaktivitäten durchzuführen, wird vielleicht nicht eingestellt, weil sie eine Beeinträchtigung der Aktivität hat, die zwar durch die Benutzung eines Rollstuhls gemildert wird, der Arbeitsort jedoch für einen Rollstuhl nicht zugänglich ist.

Eine Person schließlich, die einen Rollstuhl benutzt, wird vielleicht für die Stelle eingestellt. Sie ist leistungsfähig, die Arbeitsaufgaben zu erfüllen, und führt diese auch in der gegebenen Arbeitsumwelt aus. Trotzdem hat diese Person vielleicht noch Leistungsprobleme in den Domänen der interpersonellen Interaktionen mit Mitarbeitern, weil für sie der Zugang zu Aufenthaltsräumen für die Pausen nicht möglich ist. Dieses Leistungsproblem beim geselligen Beisammensein am Arbeitsplatz kann den Zugang zu Gelegenheiten, im Beruf aufzusteigen, verbauen.

Die vier Personen erfahren Leistungsprobleme in der Domäne "Beschäftigung" wegen unterschiedlicher Umweltfaktoren, die mit den Gesundheitsproblemen bzw. Schädigungen dieser Personen in Wechselwirkung stehen. Bei der ersten Person bilden nicht vorhandene Anpassungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz und möglicherweise negative Einstellungen die Umweltbarrieren. Die zweite Person ist mit negativen Einstellungen im Hinblick auf die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen konfrontiert. Die dritte Person sieht sich der mangelnden Zugänglichkeit der baulichen Gegebenheiten gegenüber und die letzte Person ist mit negativen Einstellungen gegenüber Behinderungen im allgemeinen konfrontiert.

Eine vermutete Schädigung, die zu deutlichen Leistungsproblemen ohne Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führt

Eine Person arbeitet mit AIDS-Patienten. Diese Person ist an sich gesund, muss sich aber in regelmäßigen Abständen einem HIV-Test unterziehen. Sie hat keine Einschränkungen der Leistungsfähigkeit. Jedoch vermuten Mitmenschen, welche diese Person privat kennen, sie könnte sich mit dem Virus infiziert haben und meiden sie deshalb. Dies führt zu einschneidenden Leistungsproblemen der Person in der Domäne der interpersonellen Interaktionen sowie im Gemeinschafts-, sozialen und staatsbürgerlichen Leben. Ihre Partizipation [Teilhabe] ist wegen der negativen Einstellungen der Menschen in ihrer Umwelt eingeschränkt.

Schädigungen, die gegenwärtig nicht in der ICF klassifiziert werden, aber zu Leistungsproblemen führen

Eine 45-jährige Frau, deren Mutter an Brustkrebs gestorben ist, hat sich vor kurzem freiwillig einer genetischen Untersuchung unterzogen, bei der festgestellt wurde, dass sie den genetischen Code aufweist, der für ein erhöhtes Brustkrebsrisiko verantwortlich gemacht wird. Sie hat weder Probleme in den Körperfunktionen oder -strukturen noch Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, aber ihre Versicherungsgesellschaft weigert sich aufgrund ihres erhöhten Brustkrebsrisikos, sie gegen Krankheit zu versichern. Ihre Partizipation [Teilhabe] an der Domäne "sich um seine Gesundheit zu kümmern" ist wegen der Politik ihrer Versicherungsgesellschaft eingeschränkt.

Weitere Beispiele

Ein 10-jähriger Junge wird mit der Diagnose "Stottern" an einen Sprachtherapeuten überwiesen. Während der Untersuchung werden folgende Probleme erkannt: zeitliche Brüche beim Sprechen, inter- und intraverbale Beschleunigungen, Probleme in der zeitlichen Abstimmung der Sprechbewegungen und inadäquater Sprechrhythmus (Schädigungen). Es gibt Probleme in der Schule beim lauten Lesen und mündlichen Meinungsaustausch (Einschränkungen der Leistungsfähigkeit). In Gruppendiskussionen ergreift er keinerlei Initiative, sich zu beteiligen, obwohl er es gern möchte (Leistungsproblem in der Domäne des Meinungsaustauschs mit vielen Menschen). In der Gruppe ist die Partizipation [Teilhabe] dieses Jungen am mündlichen Meinungsaustausch wegen der gesellschaftlichen Normen und Praktiken, welche die ordnungsgemäße Entwicklung eines Meinungsaustausches betreffen, eingeschränkt.

Eine 40-jährige Frau mit einem Schleudertrauma, das sie sich vor vier Monaten durch einen Unfall zugezogen hat, klagt über Nackenschmerzen, starke Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, reduzierte Muskelkraft und Angst (Schädigungen). Ihre Fähigkeiten zu gehen, zu kochen, einen Computer zu bedienen und Auto zu fahren sind eingeschränkt (Einschränkungen der Leistungsfähigkeit). In Beratungen mit ihrem Arzt kam man gemeinsam überein, zunächst die Verringerung der Probleme abzuwarten, bevor sie auf ihren alten vollschichtigen Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten zurückkehrt (Leistungsprobleme in der Domäne der Beschäftigung). Wenn die Handlungsgrundsätze für Arbeitsplätze in ihrer gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt flexible Arbeitszeiten ermöglichen würden, sodass sie nicht arbeitet, wenn ihre Symptome besonders schlecht sind, und sie die Möglichkeit hätte, zu Hause zu arbeiten, dann würde sich ihre Partizipation [Teilhabe] in der Domäne der Beschäftigung verbessern.